Peter Graf_text
Gregor Kunz:

Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden.
Lutz Fleischer, das Leben für die Kunst und die Collagen des Erinnerns




Sehr widersprüchlich. Autonom, er hat sich nicht reinreden lassen. Er war nicht am Wohlwollen anderer interessiert. Wenn etwas nicht seiner Moral entsprach, konnte er sehr böse werden. Austesten, provozieren... Perfekt auch in der Provokation, perfekt im Handwerk. Er hat sich nie eingeschleimt. Immer allein und das auch gern. Er war für sich, in sich gefügt. Keine Familie, nur Anna und ich. Klare Meinungen und häufig depressiv. Im Sommer unentwegt, im Winter kein Wort. Es gab Zeiten, da hat er gar nicht geredet. Saß da und wollte nur ein Bier. (1) Er mochte es nicht, wenn ihm Leute zu nahe kamen. Er war lieb, zeigte das aber nicht gern. Ein ganz Sensibler, der hat schon Federn gelassen, aber richtig. (2) Was er angefasst hat, wurde großartig, eigen, überraschend. Ein besonderer Mensch.(3)

Von Lutz Fleischer kannte ich Mitte der 1980er den Namen, wusste aber nur ungefähr, was er macht. Gesehen habe ich ihn in der Dresdner Neustadt, öfter, aber nur einen Moment gibt der Zeitnebel frei: Er steht auf dem Gehsteig an der Ecke Bautzner und Löwenstraße, die Hand zeigt nach oben. Unterm Dach sah ein großes breites Fenster nach Norden, vielfach geteilt in Quadrate. Das, sagt er, ist mein Atelier. Ein reguläres Atelierfenster gab es in dieser Gegend nur einmal und das eine war seins.
Die erste Bilder, die sich bleibend eingeprägt haben, waren Collagen der Serie TORSI (ab 1988), Köpfe, formiert von Kreisen und geschoben an ein rechteckiges Körperzeichen: uniforme Individualitäten, starr und bewegt, rabiat genau und prophetisch. Kein Kopf ist rund, doch zeugt das Runde hier den Ausdruck, je nach dem, wo der Zirkel das Portraitfoto beschnitt. Kein Körper ist eckig und bekleidet mit Riegeln, nur Normen kriegen das hin. Fast immer sind die Augen maskiert, bedeckt, geschlossen. Man kann in den Figuren fehlsichtige Wächter sehen, Grimassen des reduzierten Menschen, Funktionen der Notwendigkeit und der Willkür. Die TORSI entstehen nicht von ungefähr vor und nach dem Zeitenwechsel 1990. Das Alte ist das Neue und Torsi sind, was übrig bleibt. Bilder werden eindrücklich, wenn sie betreffen, angehen.
Längere Gespräche gab es vor allem nach 1990, in der Blauen Fabrik, vor den Arbeiten seiner Ausstellungen und in den wechselnden Atelierwohnungen. Daraus entstanden Texte für die Sächsische Zeitung, die zwischen 1998 und 2005 erschienen sind.
Lutz Fleischer ist ein schmaler Typ - „1.72 bei Schuhgröße 42“ - kleidet sich öfter dunkel und geht etwas vornübergeneigt. Das Haar, grau bis weiß, trägt er knapp schulterlang, gelichtet und jedenfalls ungekämmt, die Augen hinter der obligatorischen Drahtbrille sind blau und in wechselnder Gewichtung verschmitzt, fatalistisch, abwesend, melancholisch und heiter. Lacht er, dann nach Art koboldesker Verschwörer. Fleischer spricht leise bis sehr leise, gelegentlich in erratischen Sätzen von verblüffender Schönheit und u.a. das aus, was er meint. Oder ihn. „Wenn Du etwas über Malerei wissen willst: Ich hasse grün... Cézanne ist darüber ja auch wahnsinnig geworden.“ (4)
Als ich nach 20 Jahren Pause wieder mit dem Bildermachen anfing, kam von ihm Zuspruch. Es wäre gut, was ich da machte, nur das hier ginge auch noch anders: Du weißt doch wie's geht.

Lutz Fleischer ist in Dresden geboren, 1956, und in Dresden ist er auch gestorben, 2019, vor seiner Zeit. Kunst muss ihn früh erreicht haben, was es war ist nicht überliefert und angesichts seiner Arbeiten auch schwer zu sagen. Sicher ist nur, er hat Bilder gesehen, die eine Antwort verlangten. Seine Mutter sah das Talent des Kindes früh, förderte ihn und hat ihn Zeit ihres Lebens weiter unterstützt.
Mit 16 begann er eine Lehre, die einen Offsetretuscheur aus ihm machen soll, und die er auch abschließt. Zeitgleich ging er zur Abendschule an der Dredner Hochschule für Bildende Künste, zusammen mit Petra Kasten. Ein Jahr später traf er hier auch Andreas Hegewald. Mit beiden blieb er verbunden, im Leben und über die Arbeit, seine und ihre.
Die Eignungsprüfung an der HfBK Dresden hat er bestanden, das hieß, man wollte ihn. Ein Studium war demnach möglich, fand aber nicht statt. Warum das so war, ist nicht auf den einen Punkt zu bringen. Es gab Einberufungen zum Reserve-Wehrdienst, deren letzte in den Studienbeginn fiel und es gab Verwerfungen heftiger Art. Matthias Jackisch, Bildhauer und Performer, ein Freund Fleischers seit den 90ern: In der Zeit des Studienbeginns war er in der Krise, bis hin zum Suizidversuch. Er konnte nicht hingehen. Andererseits hätte er, der Depressive, ohne Kunst nicht leben können. (5)
Fleischer suchte sich Jobs, die seinen Lebensunterhalt sichern konnten und sonst nicht viel von ihm wollten: Verkäufer, Heizer, Gärtner, Lagerist, Restaurator. So wurde es üblich: Junge Leute, denen die Kunstschulen und Verlage der DDR verschlossen blieben, arbeiteten tageweise oder halbtags und lebten für die Kunst, ihre, die es noch nicht gab, und eine Zukunft, die sie haben würden oder auch nicht. Ihr Weltwissen war entsprechend ein anderes und ihr Fachwissen auch, anders erarbeitet, erprobt und angewandt.
Es wüchse da eine „Friedhofsgärtner-Generation“ heran, hieß es dazu in den kunstverwaltenden Institutionen. In der Formulierung steckten Häme und Grausen, prophetische Dummheit, auch Erwartung, selbst Neid.
Mit Petra Kasten und Andreas Hegewald fand sich Fleischer ab 1983 in einer Art fruchtbringenden Arbeitsgemeinschaft zusammen, die sie Leitwolfverlag nannten. Man mußte im Osten eine Stammkneipe haben, um überhaupt in eine Kneipe reinzukommen. Da saßen wir nun oft drin und da gab’s also Frust. So hat das angefangen mit dem Zusammenzeichnen und dem Schreiben. Da kamen sonderbare und wunderbare Dinge zur Sprache, Sachen, an die niemand gedacht und über die niemand gesprochen hat. Man geht schließlich nicht zum Spaß in die Kneipe und sitzt dort rum. (6)
Der erste Versuch war überzeugend, da kamen so gute Zeichnungen raus. Andreas war gleich Feuer... Vorher wollten sie nicht. Es hat Freude gemacht. Weil man ein Ziel hatte und ein Spiel
. (7)
Frucht dieser gemeinsamen Arbeit waren die Leitwolfhefte, deren respektabler Kern 1996 in Dresden als Buch erschienen ist: Leitwolfverlag 1983-1996.

Autodidakt: darunter hat er gelitten. Aber er ist seinen Weg gegangen, das ist viel mehr wert, als ein dämliches Diplom. Der brauchte nicht auf die Schule, der war ein hochbegabter, genialischer Typ. (8) Er war viel weiter und hatte auch schon eine gewisse Ausbildung. Er war keineswegs naiv und ebensowenig akademisch, dafür lebendig. Perfekt. Durch die Schule gab es eine Hierarchie, du konntest auch verbogen werden. Lutz war frei, zu machen, was er für gut und richtig hielt. Was er durchgezogen hat. (9)
Was Lutz Fleischer bis Anfang der 80er Jahre gezeichnet und gemalt hat, ist nicht greifbar oder verloren. Der Bezirksverband Dresden des VBK nahm den Autodidakten mit diesen Arbeiten 1981 auf, womöglich eher, als das mit einem Studium möglich gewesen wäre. Einer der Fürsprecher war Claus Weidensdorfer. Von den etwas späteren Arbeiten ist mehr erhalten: Malerei betonter Fläche und Kontur, Köpfe, Figurationen in Räumen, Stadtlandschaft, Figuren und Elemente in Aktion. Vorsichtig vermutet gab es eine Tendenz zur Zweifarbigkeit – Rot oder Blau in Varianten in schwarzer bzw. dunkler Konstruktion – und einen Hang zu Helldunkel- und Komplementär kontrasten, aber auch zur Auflösung der Gegenstände in der Fläche oder im Zeichen. Bewegung ist immer dabei.
Seit 1980 etwa beschäftigten Fleischer die Brücke-Leute und der Boden, auf dem sie standen, Kirchner voran. Allein war er damit nicht, expressiv oder in sonst verwandten Seelenlagen arbeiteten etliche junge Künstler, nicht nur in Dresden ist das ein Generationenphänomen. Die Frage war: Wie ist dieser brüchig, unfest gewordenen Welt beizukommen, was lässt sie zu und was kann sie wollen? In den Antworten agiert verbreitet ein tragisches Weltgefühl, melancholische Härte, Wahrhaftigkeit. Diese Arbeit im Expressiven war Sinngebung, ein Griff nach der Welt und Suche nach dem Platz für das Selbst.
Staatlicherseits wurden diese Suchbewegungen als ein sich Absetzen, als Verweigerung, Unabhängigkeitsstreben interpretiert. Das war nicht falsch, nur ging es dabei um Kunst und Kompensation, eine Position innerhalb und gegebenenfalls außerhalb der Projekt-Ruine DDR, nicht um deren Ende. Wir waren nicht gegen den Staat. Wir waren keine Dissidenten. Wir wollten unser Ding machen. Aber dadurch wurde es schwieriger – mit Mehrdeutigem konnten die nicht umgehen. (10)
Mitte der 80er fielen im Zuge der „Erbeaneignung“ die Vorbehalte gegen den historischen Expressionismus – spätbürgerlich, dekadent, formalistisch, ichbezogen, gesellschaftsfern etc. Noch vor der großen Expressionismus-Ausstellung 1986 in der Alten Nationalgalerie Berlin bekamen 1985 sechs junge Künstler im Alten Museum die Möglichkeit ihre Arbeiten zu zeigen: Lutz Fleischer, Hubertus Giebe, Angela Hampel, Johannes Heisig, Walter Libuda und Trak Wendisch. (11)
Fleischer, seltsam bezeichnend, wurde der Sache nicht froh. Er habe sich dabei weder wohl, noch ernstgenommen gefühlt und wäre sich am Ende ziemlich überflüssig vorgekommen. Es hätten auch 30 sein können. Der Expressionismus wurde plötzlich hoffähig. Da war das eigentlich abgegessen. (12) Folgt man seiner Erzählung, dann war diese Präsentation der Anlass, die Malerei aufzugeben und sich strikt der Collage zuzuwenden. Halb hat es sich ergeben, dann wurde es Beschluss. Ich habe noch gezeichnet für Leitwolf - aber ansonsten wurde geklebt. (13)
Zeichnungen in der Kontinuität der 80er, auch Grafiken nah an der Malerei finden sich indes bis 1989, auch außerhalb der Leitwolf-Aktivitäten. Die Collagen erscheinen ab 1988; Fleischers Collagen-Stil ist da bereits voll ausgeprägt, scheinbar aus dem Stand. Was wohl heißt, der expressive Ausdruck mittels Farbe und Pinsel konnte es auf Dauer nicht sein, das Neue aber brauchte Zeit: Sehzeit und Denkzeit.

Die Setzungen in der Collage, es musste einrasten. Der Vorlauf konnte dauern. Setzen, was stimmt, einmal gestimmt hat: diese Sicherheit war beneidenswert. Voraus ging lange die Arbeit im Kopf. (14)
Collage ist bei Fleischer eine eigene Sache. Collage bezeichnet die Technik, fasst aber auch gut das Feld seiner Kunstpraxis im Ganzen, seine Weltsicht und seine Haltung. Seine Arbeit kann als eine Art Collage-Netzwerk beschrieben werden, montiert aus diversen Collagenformen, Druckgrafik, Assemblage, Plastik, Objekt, Performance und wieder Collage. Die Übergänge sind fließend, die Kategorien gelegentlich unzuständig oder überfordert. Auch die Gemeinschaftsarbeiten sind Collagen, die Arbeiten mit Andreas Hegewald und Petra Kasten im Leitwolfverlag, das Video „Stummfilm Herbert S.“ mit Matthias Jackisch und die Arbeiten im Schlüsselbundverlag mit Petra Kasten.
1992 war in der Galerie Rähnitzgasse ein Gestell zu sehen, gemacht aus recycelten Vierkanthölzern und drei Transmissionsrädern aus Holz, ein dysfunktionales Fahrzeug: zwei Räder zeigen nach oben. Dahinter hingen Collagen im extremen Hochformat, 200x60, achtfach nebeneinander. Auf den braunen Gründen dieser „Plankenwand“ verhandelten schwarze Farbfleckfolgen mit geometrisch klaren Kreisen, Balken, Rechtecken, das Hell-Dunkel unter anderem, die Zeit und was in ihr möglich ist an Bewegung und Varianz, Anrufung und Behauptung. Der Aufbau erinnert an Installationen ozeanischer Cargo-Kulte, benannt war das Ganze jedoch „Mercedes“. Mercedes heißen Nutzfahrzeuge und Egoprothesen, doch ebenso stecken im Namen die besten Eigenschaften der Mutter Gottes, Gnade und Barmherzigkeit. Er hat erlebt, dass seine Sachen berühren – das ist ein Grundsatz: Kunst berührt. Die Sachen mögen lustig sein, aber das ist nicht der Punkt: es ist auch das Gegenteil. (15)
Für Max Ernst war Collage das systematische Ausbeuten des zufälligen oder provozierten Zusammentreffens von wesensfremden Realitäten auf eher ungeeignetem Feld – „und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt“. In Fleischers Collagen erscheinen wesensfremd weniger die Dinge, denen er merkwürdig anrührend zu vertrauen scheint, wesensfremd wirken die Realitäten drumrum, gesehen, erfahren, reflektiert: Bürogänge lebenslänglich, Normierungen aller Art, die Aus- und Abrichtung der Existenz nach Kontoständen, Menschen und Städte und Wissen zerlegt in Funktionen, verwertet und verbraucht. Der Funken Poesie jedoch springt auch hier, wenn die Dinge sich verbinden und die Energie zu fließen beginnt. Aber es ist auch das Gegenteil: Hohn und Entsetzen. Und das Gegenteil noch einmal: Humor ist kein Spaß. (16)

Anreger - das änderte sich mit der Zeit. Da war der Expressionismus, als ich noch gemalt habe, und den Dadaismus kann ich auch nicht verleugnen. Banalismus, ob ich mir die Jacke anziehe, hab ich lange überlegt. Die Verwandtschaft zu dem Schwitters läßt sich am ehesten darstellen. Am meisten mag ich Duchamp. Auch Max Ernst, mit dem ich manchmal in einen Topf gesteckt werde. (17)
Das Wichtigste bei der Collage wäre, dass es klebt, lautet ein typischer Fleischer-Satz. Man kann den wörtlich nehmen, aber auch sehen, was das noch meint: Nicht die Technik macht das Bild, mach die Augen auf, es gibt kein Entrinnen...
Wenn man verschiedene Worte aneinander reiht, entsteht im günstigen Falle ein Satz. Ähnlich: Das Nebeneinandersetzen verschiedener Bild- und sonstiger fragmentarischer Schnipsel oder Gegenstände ergibt mehr oder weniger neuen Sinnzusammenhang.
Man hat die Freiheit, seine Grenzen selbst festzulegen; also, sich innerhalb eines selbstbestimmten Prinzips völlig frei zu bewegen. Alles ist möglich, jedes Thema., jedes Unthema. Selbst Raum und Zeit lassen sich manipulieren.(...)
Man kann dabei also alles benutzen; Bild, Farbe, Text, Worte, Musik, Gegenstände & Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sämtliche Materialien (…) Das Wichtigste bei der Collage ist, dass es klebt.
Der Fundus ist unerschöpflich.
Sämtliche künstlerischen Gattungen, sämtliche technischen Gebiete mit einbeziehen -
entscheidend ist die Auswahl, die Reduktion.
(18)
Der wichtigste Satz ist der letzte. Sein erster Teil ist Programm, sein zweiter Teil benennt ein Prinzip, eine Basis des Tuns. Das Wichtige in der Collage ist die Begegnung der Dinge und was sie im Bild miteinander aushandelnd. Dafür kann man den Zufall bemühen und sich selbst, beides in wechselnder Gewichtung. Zufall steckte bei Fleischer im Finden des Materials, wenn es ihn ansprach, begann der Dialog. Auswahl und Reduktion benennen einen wesentlichen Teil seines sehr bewussten Arbeitens, den nicht unwesentlichen Rest stellten Blick und sein gediegenes Handwerk.
Ein Vergleich mit älteren Meistern der Collage, auch mit Zeitgenossen ist erhellend. Kurt Schwitters, Hannah Höch, Wolfgang Petrowsky arbeiten häufig aus der Fülle, flächendeckend und dicht. Collagen verlangen immer geduldige Genauigkeit, doch bleibt in der Fülle den Elementen mehr Spiel: Ein Millimeter nach Dortwo, ein Winkelgrad plus oder minus sind drin. Fleischer entschied sich meist für wenige Elemente, die er klar unterscheidbar ins Zentrum einer neutralen Fläche setzte, ohne Rückzugsmöglichkeit quasi. Fuzzigeometrische Farbfelder, Kreisringe, belassene Fundstücke, Realitätszitate, Fotos, Bilder im Bild, Geldscheine, Zahlen und lesbare Schrift: Alles liegt vor aller Augen. Er reduzierte damit den Spielraum enorm und forderte sich, heraus vor allem. Am Ende stehen Gleichgewichtsarchitekturen, über Neigungen, Abweichungen und Schrägen gebaute Spannung, die „Muss so“ sagt.
Oft setzte er überdies den Zufall strategisch als Grundierung ins Werk: mit den schwarzen Farbspritzern, Flecken kommen Trittsteine ins Blatt, eine Suggestionsfrage an das Selbst aller Stufen. In den Druckgrafikfolgen ab 1994 und in den Unikatdrucken geht das weiter. Ähnlich in den Objekten. Abgeschnittene Stecker, die 1988 („Elba III“) die Steckdosen des Leonhardi-Museums mit toten „40 000 Watt“ besetzt hielten, landeten 1998 kopfüber in einem trockenen Aquarium, beglaubigt von einem Zettel: „Elektriker, was wäre die Nacht ohne Dich.“ Ein formgleiches Glasbecken enthielt Wasser, darin eine Glühlampe an angelöteten Kabeln schwamm und leuchtete. „Das Erste, was, wer Elektriker lernt, lernt, ist, dass das, was hier zu sehen ist, vermieden werden muss!“ lautete der Kommentar, das Objekt im Ganzen galt als „Piranha“, mit der Nacht und aller Gewissheit als Beute. Wie Zufallsmanipulation und Spieleordnungen war Absurdität ein Mittel Fleischers, sich mit dem Realexistenten anzulegen.
Retuscheur hat gepasst. Lutz war pingelig, sehr genau, technisch gut. Seine Arbeit war systematisch. Lutz baute das auf, Schritt für Schritt. Er war strukturiert, aber auch getrieben. Sein Leben und sein Werk waren vollkommen identisch. Ein guter Blick, souverän, und souverän im Umgang mit seinen Mitteln. Er hat genau gesehen, nicht nur das Äußere. (19) Er konnte Sachen sehen, hintersinnig, erst mal ohne zu suchen. Der sah etwas und lachte sich tot. Das war alles auf dem Bild. Er muss eine Rauschenberg-Ausstellung gesehen haben – dass man malen kann ohne Pinsel – so sind ja auch Collagen von ihm. Er hat das richtig studiert. Das war ein Schlüssel, Bilder ohne Pinsel. Dann hatte er die Fähigkeit, sehr genau zu sein. Ein Systematiker? Absolut. Es findet sich in seiner Arbeit kein Moment, von dem man meinen könnte, da könnte irgendwas anders sein. (20)

Er war als Underdog unterwegs, fast immer... Auch als Rolle, aber es entsprach auch seinem Wesen. Sehr bescheiden, zurückhaltend. Die Verschließung der Villa Marie war ein Geniestreich. Ich hatte alle Künstler eingeladen, die im Haus gearbeitet haben. Lutz Fleischer, Petra Kasten und Thomas Haufe wollten an der Fassade was machen... Gefragt habe ich nicht. Es war die beste Aktion zu Verschließung. Und das dann noch „Pechmarie“ zu nennen. Ziemlich rund als Kunstarbeit. Wo die Klasse von Lutz wieder durch kam... Eigentlich alles von ihm ist von hoher Qualität. (21)
Wenn Qualität der Maßstab ist, war Lutz Fleischer erfolgreich. Auch die vorläufige Bilanz seiner Präsenz und seiner Aktivitäten weist in diese Richtung. Zwischen 1980 und 2019 hatte er 30 Ausstellungen und war an 48 Ausstellungen beteiligt. Einige der Beteiligungen brachten ihn in große Häuser, bis zuletzt aber nur mit der Malerei der frühen Jahre, nicht mit dem Collagenwerk. (22) An neun Büchern hat er bei Leitwolf- und Schlüsselbundverlag mitgearbeitet, dazu kommen Grafiken, verstreut im weiten Feld des Samisdat. Es gibt drei Grafikmappen von ihm, den Film, den er mit Matthias Jackisch gemacht hat, elf Auftritte als Performer und einen Berg Fotografien. Mindestens: Sollte ein strebsamer Doktorand sich dieses Themas annehmen, wird er mehr finden.
Wieviele Arbeiten Fleischer in die Welt setzte, ist unbekannt. Wie alle Künstler war er habituell fleißig, auch wenn er gern das Gegenteil behauptet hat. Doch gab es Grenzen: Gekonntes über Jahre in Wiederholungen bergab zu schieben, fand er sinnlos.
Ein Höhepunkt dürften die 90er gewesen sein: Für einen gedehnten Moment schien vieles möglich. Fleischer arbeitete hochmotiviert, engagierte sich gegen den Abbau der Kulturlandschaft Dresden, gründete die Galerie Blaue Fabrik, fand sich in neuen, erweiterten Zusammenarbeiten wieder, kam zur Performance. Er war furchtlos und kämpferisch. (23)
Sein Radius wuchs, zumindest anfangs. Die Ausstellung „Junge Kunst aus Sachsen“ tourte 1991 durch Frankfurt/Main, Ulm, München, Köln, und Lutz Fleischer war dabei. Nur konnten die Kuratoren nicht mit den Dresdnern und die Dresdner nicht mit ihnen. Kunst für einen absoluten Wert nehmen und in Verwertungskategorien denken, war schwer zu vereinen, um vom Habitus nicht zu reden. Das Interesse erlosch. Im Zwischenreich der 90er ging es bei uns weg vom DDR-Zeug und nicht hin ins West-Zeug. Diese verkopfte Kunst des Westens war für Lutz der größte Horror. Ein Konzept, ein Idee haben und ein Leben lang dasselbe machen. Das war Lutz völlig unverständlich. (24)
Parallel lief bereits, was später vornehm Bilderstreit heißen sollte, eine aggressive Revierverteidigung, über Abwertungsgerede vorgetragen und rüdes Anpissen, durch Baselitz etwa, schon 1990: „...es gibt keine Künstler in der DDR, alle sind weggegangen“. Die Ansage und was ihr an Abwertungskampagnen folgte, hatte Vorteile: Hinsehen, Befassen, immanentes Begründen erübrigte sich. Bis 1995 etwa verschloss sich der Kunstbetrieb West für viele Künstler mit Osthintergrund und ebenso der Markt, den es im Osten kaum gab.
Das regional übergreifende Zusammenarbeiten von Künstlern, Autoren, Musikern im Projekt „kARTOFFel“ hätte dazu ein Gegenmodell sein können. Eine unverbrauchte Kombination mit Art und Offen, ein kommunikatives, artoffenes Element... Den Kunsthistorikern war das ein Greuel, wir waren die falschen Leute. (25) Immerhin trug es von 91 an über drei Jahre, führte zu acht Ausstellungen in Dresden und Berlin und brachte es auf drei Kataloge.

Lutz Fleischer hat immer prekär gelebt oder in Armut. In den 80ern war das eine mögliche Wahl, schon weil Geld keine große Bedeutung hatte. Auch in den 90ern war Armut noch einfach. Das änderte sich in den 2000ern: Armut wurde per Gesetz zur Bedrohung der Existenz und gilt seither als Verhaltensdefizit. Fleischer hat verkauft, doch immer zu wenig. Eine Galerie, überregional erfolgreich, hätte geholfen, aber die hatte er nicht. Dafür gab es Aushilfsjobs, Vorhaben und am Ende das Jobcenter, wegen der Krankenversicherung. Armut hindert Künstler an der Arbeit. Ohne Einkommen kein Atelier und an Material nur was sich finden lässt. Jobben verbraucht Kraft und Zeit, Ausweglosigkeit zermürbt und Resignation ist eine böse Sache, nicht nur für das Selbstbild. Fleischer kannte den Wert seiner Arbeit und fand sie nicht honoriert.
2005 immerhin bekam er überraschend den bedeutenden Hans-Theo-Richter-Preis der Sächsischen Akademie der Künste. Der Vorschlag kam von Osmar Osten, die Diskussion war kurz: Fleischer hat's verdient. Das Merkwürdige nächst der Preisvergabe war die Preisleere vordem und dass darauf nichts folgte. Zu rechnen war damit natürlich nicht, es hätte auch noch zwanzig Jahre so weitergehen können. (26) Es ging noch 14 Jahre so weiter.
Er hätte einen Mäzen gebraucht, sagt Andreas Hegewald. Er machte nicht mehr mit, sagt Petra Kasten. Er ist so weit gegangen, wie er konnte, sagt Matthias Jackisch.
Seine letzten Jahre lassen sich als eine Performance verstehen, als eine Art 365-tägige Fastnacht, ein Verkleidungsspiel mit auch autoaggressiven Zügen. Ob Lutz Fleischer mit sich im Reinen war, weiß ich nicht. Gelegentlich wirkte er so, dann wieder nicht.

Wer sich für Kunst interessiert hat, kannte und schätzte ihn. Unter Kollegen, auch Sammlern gab es Zuspruch. Aber über Dresden ist das nicht hinausgegangen. Ost wie West waren enttäuschend. Dieses Blankziehen ab 2000... Der Kunstbetrieb hat ihm keine Chance gegeben und er ist dem auch nicht nachgelaufen. Kulturfunktionäre sind in Ost und West gleich. Es geht nicht um Kunst. Den Punkt hat Lutz erkannt und aufgegeben. Man hat sich gefreut: es wird anders, und dann kommen genau solche Hornochsen. Eigentlich hat Lutz das richtig gemacht: ich dreh frei, ich zieh blank. Für mich vollkommen logisch. Das es ein schlimmes Ende nimmt, war klar. Irgendwann spät hat er gesagt: er will nicht mehr, er macht nicht mehr mit, nach den Erfahrungen Ost und West. Der Traum, irgendwann den Durchbruch auf großer Ebene zu schaffen, der war ausgeträumt. (27)
Sein Abgang, das war so geplant. Er hatte kein anderes Bild von sich. Das Stadtmaskottchen, das war Performance. Er fand, anders ist es nicht. (28)
Er avancierte zum Diogenes der Dresdner Neustadt, als das Verkleidungsspiel begann... Es war eine Verzweiflungstat am Ende, sein Auftritt als Rollen-Verwandlungskünstler in der Selbstperformance. Das war auch Selbstkasteiung. Die Ausstellung zum 50. in Golberode: Er sah da sehr verloren aus. Es gab keine Ausstellung von der Stadt etc. Wieder eine Kränkung. Die Kränkungen haben ihm zu schaffen gemacht. Deshalb auch der beißende Witz. Ich würde das nicht als Ruf nach Aufmerksamkeit verstehen, sondern als Protest. Eine tragische Konsequenz, die er auch selbst gezogen hat. Unmöglich zu sein, das hält keiner durch. (29)
Ich seh ihn nicht als gescheitert. Er ist so weit gegangen, wie er konnte. Was er gemacht hat, hat Gewicht. Bis zu den letzten Fotos, die eher performativ sind, prozesshaft. Was bleiben soll, ist da. Er hat grandiose Bilder hinterlassen, eine Qualität, die einmalig ist, die niemand wegwerfen kann. Er hat seine Sachen gelebt. (30)
Was bleibt: Solange wir noch auf der Welt sind, bleiben wir verbunden. Er ist tief in meinem Herzen. Sein Leben war wahrlich reichhaltig.
(31)

Naja, mich interessiert Absurdität. Eigentlich ist das ganze sinnlos, was man macht den ganzen Tag - Kunst, meine ich. Vielleicht hat das einen selbsttherapeutischen Sinn. Wenn du was machst, und du merkst, dass es gut ist, das ist schon ein angenehmer Moment. Aber sonst, wenn du denkst, das ändert was... Dass blöde ist, dass du dir irgendwann nicht mehr vorstellen kannst, irgend etwas anderes zu machen als diesen Schwachsinn. Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden. (32)

(1) Petra Kasten, Gespräch am 24.März 2021
(2) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(3) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(4) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden, Sächsische Zeitung, 20. Mai 1998)
(5) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(6) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden, Sächsische Zeitung, 20. Mai 1998)
(7) Petra Kasten, Gespräch am 24.März 2021
(8) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(9) Petra Kasten, Gespräch am 24.März 2021
(10) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(11) Expressivität heute - junge Maler der DDR: Staatliche Museen zu Berlin (DDR), Nationalgalerie, 40. Studio-Ausstellung im Alten Museum, 19.6. - 25.8.1985
(12) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden, Sächsische Zeitung, 20. Mai 1998)
(13) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden, Sächsische Zeitung, 20. Mai 1998)
(14) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(15) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(16) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, So macht man Entdeckungen. In: SSächsische Zeitung, 30.8.2005)
(17) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden, Sächsische Zeitung, 20. Mai 1998)
(18) Lutz Fleischer, post scritum (2) supplement, galerie kunst der zeit, schlüsselbundverlag, dresden 1998
(19) Petra Kasten, Gespräch am 24.März 2021
(20) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(21) Wanda (Claudia) Reichardt, Gespräch am 29.März 2021. Die Aktion „Pechmarie/Villa Marie geteert und gefedert“ fand am 12.5.1990 statt. Teer und Federn waren an Fassade und Dach über drei Jahre präsent. (22) Gezeigt wurde (und wird) meist „Das trunkene Paar“ von 1981, das schon 1985 in Berlin zu sehen war
(23) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(24) Petra Kasten, Gespräch am 24.März 2021
(25) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(26) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, So macht man Entdeckungen. In: SSächsische Zeitung, 30.8.2005)
(27) Petra Kasten, Gespräch am 24.März 2021
(28) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(29) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(30) Matthias Jackisch, Gespräch am 25.März 2021
(31) Andreas Hegewald, Gespräch am 30.März 2021
(32) Lutz Fleischer (Gregor Kunz, Eigentlich wäre ich lieber ein Vogel geworden, Sächsische Zeitung, 20. Mai 1998)

In: Ostra-Gehege 101 (III/2021)

zurück